Leseprobe "Oktoberblau"
Evi
las im schwächer werdenden Licht, bis es endgültig zu finster geworden
war. Ihr Magen wurde aufsässig, und ihre nackten Füsse waren eiskalt.
Sie knipste das Licht an und suchte ein Paar Socken hervor. Sieben Uhr.
Wie lange brauchte ein normaler Mensch vernünftigerweise, um eine
Handvoll Petersilie zu besorgen? (Überhaupt kannte Evi Petersilie eher
als Dekorationsmaterial denn als unverzichtbaren Bestandteil von
Rezepten.) Ob Bibi umdisponiert und eine grössere Shoppingtour
angetreten hatte? War sie vielleicht einer Bekannten begegnet und sass
mit ihr beim dritten Campari vor "Luigi's Bar"? Aber warum hatte sie
dann nicht wenigstens telefoniert? Und Evi, die mittlerweile ebenfalls
giggerig auf einen Apéro und ein paar Nüsschen war, dazugeholt?
Letzteres
immerhin klärte sich, als Evi in einer stilvollen Keramikschale neben
dem Festnetz-Telefon Bibianas Handy fand. Ihre Freundin hatte
anscheinend nicht im Sinn gehabt, lange weg zu bleiben.
Evi
versuchte sich an einem zeitlichen Raster. Sie selber musste zwischen
halb vier und vier Uhr eingeschlafen sein. Wenn Bibi nur
ein kurzes Schläfchen gehalten hatte, konnte sie frühestens um Viertel
nach vier ausgegangen sein. Vor fast drei Stunden.
Kein
Grund zur Aufregung, Evi! Du streichst dir jetzt ein Butterbrot. Schau
mal, ein fremder Kühlschrank! Fast so interessant wie ein fremdes
Bücherregal!
Evi
liess sich ablenken, schnupperte am Inhalt eines Glases mit der
kryptischen Aufschrift "Umeboshi", versuchte einen Schnipsel Käse.
Sägte ein solides Stück Brot vom Laib, machte sich eine Ankenschnitte
von der Sorte, in der man Zahnabdrücke sieht.
Evis
lebhafte bis ausufernde Phantasie kam ihr im Alltag auf verschiedene
Arten zupass; sie füllte Wartezeiten mit Tagträumen, ersann
Entschuldigungen, gab Kundinnen originelle Buchtipps, auf die Evis
Kolleginnen im Leben nicht gekommen wären. Wenn jedoch Pläne aus dem
Gleis gerieten, Freunde nicht zur ausgemachten Zeit unter der Zürcher
oder Aarauer Bahnhofsuhr standen, konnte sich Evis Vorstellungskraft
blitzschnell zu ihrer Besitzerin umdrehen, sie in den Schwitzkasten
zwingen und sie in einen grellerleuchteten, weissgekachelten Raum
schleifen, wo ein Gerichtsmediziner gerade Anstalten machte, ihrer
besten Freundin Barbara, die in Tat und Wahrheit bloss wieder einmal
den Bus verpasst hatte, das Brustbein durchzusägen. Äusserst selten, das
wusste Evi durchaus, bewahrheiteten sich ihre drastischen Befürchtungen
auch nur im Ansatz. Irgendwann war die Stellwerkstörung in Olten
behoben und die Kollegen trudelten ein. Wahrscheinlich waren Evis
Schreckensszenarien eine Art Verteidigungsmechanismus, der ihren Schock
angesichts der Nachricht über einen tatsächlichen Unfall vorwegnehmen
und mildern sollte.
Also gut. Evi war hiermit auf das Schlimmste vorbereitet. Was aber, ganz praktisch gefragt, sollte sie jetzt machen?
Zu
Hause, in einem anderen Leben, gab es jederzeit die Option, die Polizei
anzurufen. Noch nicht auf die Notrufnummer, mehr, um sich Rat zu holen.
Hier und jetzt, in Rom um 19.14, hatte Evi das Gefühl, sich diesen
Ausweg gründlich verbarrikadiert zu haben: Sehr bald nämlich müsste sie
bei jeder Unterhaltung mit einem Polizeibeamten auf die Geschehnisse
des Tages zu sprechen kommen, damit eine realistische Einschätzung der
Lage überhaupt möglich würde. Und dazu war Evi nicht bereit. Nicht,
bevor noch einiges mehr an Wasser den Tiber hinuntergeflossen wäre.
"Nicht, bevor ich einen Erpresserbrief samt einem Stückchen von
Bibianas Ohr bekommen habe", dachte Evi, "nicht, bevor es endgültig zu
spät ist, ihr zu helfen, falls sie in Gefahr ist."
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